Planung für den Verkehr

Planung für den Verkehr (Ausschnitt aus dem Artikel für G.D.I. Topics von Victor Gruen; aus Ordner 1, Dok. 19)

Ich folge der Einladung des Gottlieb Duttweiler-Institutes, einen Beitrag zum Thema „Verkehrsplanung“ zu leisten, besonders gerne, weil auf diesem Gebiet nicht nur große Schwierigkeiten, sondern auch prinzipielle Missverständnisse bestehen. Weiters erging an mich die Aufforderung, „Schwerpunkte für eine zukünftige Planungsphilosophie für den Verkehr“ zu entwickeln.

Es ist signifikant, dass das Problem, wie sich der Mensch in der Industriegesellschaft fortbewegen soll, als brennender angesehen wird, als das Problem wie er arbeiten, wie er sich bilden und wie er wohnen soll. Als wie wichtig dieses Problem der Fortbewegung heute angesehen wird, ergibt sich aus der Tatsache, dass in den Planungsämtern der westlichen Welt, Verkehrsplaner führende Stellen innehaben und dass in unseren Zeitschriften die Motorbeilagen und Reisebeilagen mehr Platz einnehmen, als jene Seiten, die der Kultur, der Kunst und sogar der Politik gewidmet sind.

Die Frage, wie man die stetig zunehmenden Verkehrsbedürfnisse befriedigen könne, wie man den uns vergewaltigenden Verkehr bewältigen könne, wiegt deshalb so schwer, weil sie mit Ausnahme jener Teile der Erdoberfläche, auf denen es keinen oder wenig Verkehr gibt, noch nirgends befriedigend beantwortet worden ist.

Um meine Leser nicht irrezuführen, möchte ich gleich zu Beginn dieses Artikels feststellen, dass auch ich die Frage, wie man für zunehmende Verkehrsbedürfnisse planen könne, nicht zu lösen imstande bin. Denn Massenverkehr ist vergleichbar mit der Hydra aus der griechischen Mythologie, jenem unsympathischen Tier, das sich dadurch auszeichnete, dass, wenn man ihm einen Kopf abschlug, zwei neue Köpfe zuwuchsen. Da Verkehr die peinliche Gewohnheit hat, dann, wenn man ihn befriedigt glaubt, aufs Doppelte anzuwachsen und wenn man ihm den kleinen Finger reicht, gleich die ganze Hand zu nehmen, muß jeder Versuch, für zunehmenden Verkehr zu planen, als ausweglose Zeitvergeudung angesehen werden.

Wenn Vernunft zur Einsicht zwingt, dass man ein Problem, auch mit dem größten Einsatz an Technologie und Investitionen, nicht zu lösen imstande ist, wenn es sogar Computern, die in den Dienst dieser Aufgabe gestellt werden, die Rede verschlägt, dann tut man gut daran, das Problem selbst unter die Lupe zunehmen und zu seinen Wurzeln vorzustoßen.

Aus dieser Erkenntnis ergibt sich als Schwerpunkt einer zukunftsträchtigen Planungs-Philosophie für den Verkehr, die folgende grundlegende These: Um die Zielsetzung optimaler Lebensqualität für den Menschen zu erreichen, müssen wir nicht für den Verkehr, sondern gegen den Verkehr planen.

Das klingt etwas erschreckend, wird aber klar, wenn wir folgende Überlegungen anstellen:

  • Wir hätten offensichtlich kein Verkehrsproblem und müßten uns deshalb auch nicht mit Verkehrsplanung beschäftigen, wenn es keinen Verkehr gäbe.
  • „Warum haben wir ein Übermaß an Verkehr?“ Alle jene, die aus ideellen oder materiellen Gründen daran interessiert sind, daß wir möglichst viele Kraftfahrzeuge produzieren und möglichst viele Straßen bauen, begründen dies „idealistisch“ damit, dass Mobilität ein Ausdruck der menschlichen Freiheit sei. Sie weisen mit Stolz darauf hin, daß unsere Epoche die freieste aller Epochen sei, weil wir uns der größtmöglichen Mobilität erfreuen.

Nun ist wahr, daß der Mensch schon immer von Wanderlust erfüllt gewesen ist. Trotzdem wird jener Zeitpunkt der Geschichte als einer der wichtigsten der Zivilisation gewertet, zu dem sich der Mensch vom herumziehenden Nomaden zum sesshaften Bauern und später zum Bürger von Städten entwickelte.

Das Ausmaß der heutigen Mobilität kulminiert darin, dass die jährliche Kilometerleistung eines Nomaden von jedem Vorortependler um ein Vielfaches übertroffen wird. Auch während der Zeit der großen Völkerwanderungen wurden kaum jemals innerhalb einer Woche jene Entfernungen zurückgelegt, die heute vom modernen Menschen während eines Weekendausfluges bewältigt werden. Für Goethes Italienreise wurde ein Zeitraum benötigt, den kein halbwegs renommiertes Reisebüro ansetzen würde und Jules Vernes Utopie, in 80 Tagen um die Welt zu reisen, klingt im Zeitalter des Düsenflugzeuges nostalgisch.

Wir behaupten deshalb triumphierend, die vollkommenste und freieste Gesellschaft aller Zeiten geschaffen zu haben, da wir doch soviel mobiler sind als je zuvor und da, zum Unterschied von anderen geschichtlichen Perioden, diese Mobilität fast jedermann zur Verfügung steht.

In dieser Feststellung liegt die ganze Problematik begraben:

Millionen Mobilitätsteilnehmer geraten einander notwendigerweise in den Weg und in die Haare, und deshalb wird die vielgepriesene, individuelle Mobilität immer häufiger zur kollektiven Immobilität. Verkehrsmaschinen, die unter Einsatz von technischer Genialität so konstruiert sind, dass sie bis 200km/h dahinrasen können, schleichen innerhalb der Städte im Schneckentempo und reihen sich auf Autobahnen in kilometerlangen Kolonnen aneinander.

Jene Besitzer von Kraftwagen, die dieser Zustände müde geworden sind und die das dazu nötige Kleingeld besitzen, begeben sich in relativ menschenleere Landstriche, die in Inseraten der Reisebüros als Autoparadiese angepriesen werden. Wenn diese Inserate erfolgreich sind, findet der Flüchtling aus dem übermobilisierten Land, dass sich das sogenannte Autoparadies in der Zwischenzeit in eine Autohölle verwandelt hat. Verärgert kommt dann der „mobile Mensch“ zur Ansicht, dass ihm die ganze Mobilität nichts nütze, da man mit ihr nicht vorwärts komme und beschließt zur Abwechslung, in seiner Wohnung stille zu sitzen und sich dem Lesen eines Buches oder dem Anhören von Schallplatten oder dem Fernsehen zu widmen.

Da aber andere ihre Begierde nach Mobilität nicht aufgegeben haben, wird ihm diese Vorhaben vergällt. Wenn er die Fenster öffnet um frische Luft zu schnappen, macht er sie ebenso schnell wider zu, weil er feststellen muß, daß die Luft nicht frisch sondern verseucht, verschmutzt und mit Lärm erfüllt ist.

Da der Mensch aber auf Atmen ebensowenig verzichten kann, als auf Speise und Trank und auf die Befriedigung seiner Erwerbsbedürfnisse, sieht er sich bald gezwungen, den Schutz seiner Wohnstätte aufzugeben und sich hinaus in die feindliche Umwelt zu begeben.

Dieser mobilitäts-müde Mensch ist der Wahrheit auf die Spur gekommen: Die vielgepriesene Mobilität ist nicht oder wenigstens nicht zum Großteil ein freiheitliches Recht, sondern eine aufgezwungene Pflicht. Der größte Teil unseres Strebens, uns von einem Platz zum anderen zu bewegen, ist nicht durch Wanderlust begründet, sondern durch Zwang.

Diese „Zwangsmobilität“ ist das Resultat falscher Planung unserer Siedlungen, Städte und Produktionsstätten. Wir bewegen uns nicht deshalb fortdauernd, weil es uns Freude macht, sondern weil wir, wie die alten Nomaden, zur ewigen Jagd und ewigen Flucht gezwungen sind. Wir jagen nach Erwerb, nach Vergnügen, nach Erholung und nach Einkaufsgütern (die Amerikaner bezeichnen eine Frau, die günstig einkaufen will als „bargain hunter“, also eine Warenjägerin). Wir fliehen vor verpesteter Luft, vor Lärm und vor allen anderen Symptomen des Verkehrs. Wir fliehen aus dem Stadtkern zur Peripherie, aus der Peripherie ins Stadtumland, aus dem Stadtumland in die Region, aus der Region ins Grünland.

Desto weiter wir unsere Jagdreviere ausdehnen, desto mehr sind wir gezwungen, uns der Hilfe komplizierter, technischer Apparate zu bedienen, desto mehr wir dem Verkehr entfliehen, desto mehr Verkehr erzeugen wir. Wir scheinen also in eine völlig verfahrene, ausweglose Situation geraten zu sein.

Da fortgesetztes Rennen in einer Sackgasse nur einem Narren zugetraut werden kann, empfiehlt es sich für vernunftbegabte Menschen, auf einem Irrweg einzuhalten, in die Gegenrichtung zu laufen und andere, erfolgversprechende Wege zu suchen. Diese Auswege können nur dann gefunden werden, wenn wir der gestellten These folgend, nicht für den Verkehr, sondern gegen den Verkehr planen.

Wenn man mit einem scheinbar unlösbaren Problem konfrontiert wird, lohnt es sich, über fundamentale Dinge nachzudenken. Der Mensch, so wie alle anderen Tiergattungen, benötigt eine „Bleibe“ (das Nest oder den Bau), weil er ein biologisches Urverlangen nach Geborgenheit hat. Um Futter und sonstige Güter in die „Bleibe“ zu bringen, muß er sein Nest verlassen, er muß sich sein Brot „im Schweiße seines Angesichtes“, in Form von Geld verdienen und er muß es dann in Lebensnotwendigkeiten umtauschen. Tut er dies nicht, verhungert, verdurstet und verkümmert er und kann seine „Jungen“ nicht aufbringen. Die zu diesem Zweck notwendige Fortbewegung könnte man „Pflichtverkehr“ nennen.

Darüber hinaus ersehnt der Mensch „höhere Werte“, die er durch Bildung, Erbauung und Geselligkeit zu schaffen strebt. Die hierzu notwendige Fortbewegung könnte man „Wahlverkehr“ nennen.

Das notwendige Ausmaß des Pflicht- und des Wahlverkehrs wird durch zwei Komponenten bestimmt:

  • die Qualität der „Bleiben“, der „Pflichtorte“ und der „Wahlorte“
  • die räumliche An- und Zuordnung dieser drei Orte

Ist die Qualität der „Bleibe“ schlecht, dann jagt der Mensch nach besseren Alternativen (z. B. bessere Wohnung, Zweitwohnung, Landhaus, Erholungsort). Ist die Qualität der „Pflichtorte“ schlecht (unbefriedigende Arbeitsumwelt oder Arbeitsbedingungen), dann sucht der Mensch nach besseren Alternativen, auch wenn sie in großer Entfernung von der „Bleibe“ gelegen sind.

Wenn schließlich die Qualität der „Wahlorte“ für Erholung, für die Erhaltung körperlicher und geistiger Gesundheit oder für kulturelle und ideelle Wertschöpfung unbefriedigend ist, dann verzichtet der Mensch entweder auf diese Wertschöpfung und strebt nach Ersatzwerten (wie Betäubung durch Alkohol, Nikotin, Rauschgift oder Fernsehen), oder er jagt nach besseren Alternativen.

In all jenen Fällen, in denen die Qualität mangelhaft ist, erhöht sich das Fortbewegungsbedürfnis und führt zur Zwangsmobilität. Das Wachsen der Zwangsmobilität trägt nun ihrerseits zur Verschlechterung der Qualität der „Bleiben“, der „Pflichtorte“, und der „Wahlorte“ bei. Das durch das Wachsen der Zwangsmobilität geschaffene Verkehrsbedürfnis bedingt ungeheuere Investitionen in Fahrzeugproduktion und Verkehrswegeausbau, verursacht Raubbau an Land und Energie und erzeugt Lärm, gesundheitsschädliche Abgase und ernste Störungen der physischen und psychischen Gesundheit des Menschen.

Wir haben es also mit einer Kettenreaktion zu tun: Sinkende Qualität der „Bleiben“, der „Pflichtorte“ und der „Wahlorte“ zeugt steigende Quantität an Verkehr. Steigende Verkehrsquantität bringt weitere Verschlechterung der Qualität mit sich.

Die hierdurch zusätzlich hervorgerufene Qualitätsverminderung der „Orte“ bewirkt erneute Zunahme der Zwangsmobilität und als Beiprodukt eine zunehmende Verschlechterung der Verkehrsqualität.

Gelänge es uns, die Qualität der „Orte“ optimal zu gestalten und die An- und Zuordnung von „Bleiben“, „Pflichtorten“ und „Wahlorten“ so zu treffen, dass Weglängen zwischen ihnen auf ein Minimum reduziert werden, dann wären offensichtlich viele jener Gründe, die zur Fortbewegung mit mechanischen Mitteln zwingen, ausgeschaltet und es würde nur jenes Ausmaß an Fortbewegungsbedürfnis verbleiben, das sich aus der Wanderlust des Menschen, aus seinem Wunsch nach abenteuerlichem Erlebnis, also aus „freiwilliger Mobilität“ ergibt. Da „freiwillige Mobilität“ nur für einen verschwindend kleinen Teil des Fortbewegungsbedürfnisses verantwortlich ist, würden wir plötzlich mit Vergnügen feststellen können, dass es das Verkehrsproblem überhaupt nicht gibt.

Bemühungen in dieser Richtung sind deshalb besonders aussichtsreich, weil jene Kettenreaktion, die sich im Fall der Vergrößerung des Verkehrsbedürfnisses ergibt (also Flucht, Jagd, Verkehrsaufkommen, verstärkte Flucht, verstärkte Jagd und verstärktes Verkehrsaufkommen) auch in umgekehrter Richtung erfolgen kann, so dass aus dem „Teufelskreis“ ein „Engelskreis“ wird.

Diese Gedankengänge erscheinen so logisch, dass sie Gefahr laufen, wie alles Logische als „unrealistisch“ bezeichnet zu werden. Wir haben uns ja daran gewöhnt, alles, was mit der bestehenden Realität nicht völlig konform geht, auch dann, wenn wir diese Realität als unbefriedigend erkennen, als „utopisch“ zu verurteilen. Wenn aber, mit Bezug auf eine bestehende Realität, ein an Abscheu grenzendes Gefühl des Unbehagens besteht und wenn es sich erweist, dass alle Verkehrsplaner der Welt eine befriedigende Lösung für die Realität nicht finden können, dann scheint es mir “unrealistisch“, eine als „Utopie“ entlarvte Realität aufrecht erhalten zu wollen, und es scheint bedeutend realistischer, neue Wege einzuschlagen.

Mit Bezug auf die bestehende Realität ist es symptomatisch, daß in allen jenen Fällen, in denen Wege der direkten Demokratie eingeschlagen werden, sich scheinbar widersprechende Tendenzen zeigen. Die befragten Bürger wehren sich nicht nur gegen alle Straßen- und Autobahnprojekte, sondern, wie es sich kürzlich in Zürich gezeigt hat, auch gegen alle Vorhaben, den öffentlichen Verkehr zu verbessern. Sie sind also scheinbar irrational gegen jede Art von Verkehrsplanung.

Dieser scheinbaren Unvernunft liegt aber eine, wenn auch nur emotionelle, Erkenntnis zugrunde. Man fürchtet, dass verbesserte Verkehrsverhältnisse jeder Art zur weiteren Zerreißung der Stadt in unifunktionelle Gebiete führen könnten und dass z. B. eine hohe Effizienz des Massenverkehrs zur Innenstadt dazu führen würde, die bestehende Tendenz, diese in einen reinen Arbeits- und Geschäftsdistrikt umzuwandeln, weiters ermutigt würde. Der Bürger weiß, dass eine solche Ermutigung zur Erhöhung der Bodenpreise führt und deshalb zur Austreibung aller wirtschaftlich schwächeren Funktionen wie z. B. der Wohnfunktion und aller jener, die von kleineren Betrieben erfüllt werden.

Die einzige aussichtsreiche Lösung der städtischen Probleme, einschließlich ihrer Verkehrsprobleme, scheint also in der Richtung zu liegen, Verkehrsbedürfnisse aller Art scharf zu reduzieren. Dies erscheint nur durch die Mittel der Hebung der Qualität von „Bleiben“, „Pflichtorten“ und „Wahlorten“ und durch deren bessere An- und Zuordnung im Verhältnis zueinander möglich zu sein.

Im Bereich der An- und Zuordnung verschiedener städtischer Funktionen kann man diese Idee kaum als „utopisch“ bezeichnen, weil in dieser Beziehung in der Vergangenheit, lang bevor Kraftwagen und Verkehrsplaner das Licht der Welt erblickten, bedeutend bessere Situationen bestanden haben.

In Europa wenigstens sind wir in der Lage, solche besseren Anordnungen in alten Siedlungen und in den historischen Gebieten der Städte, soweit sie der Motorisierung nicht zum Opfer gefallen sind, noch heute zu beobachten. Hier gibt es in vielen Fällen noch eine enge kleinkörnige Verflechtung aller menschlichen Funktionen, im Rahmen eines zellenartigen Aufbaus, der sich in der Gliederung der Stadt in Quartiere, Stadtviertel und Bezirke ausdrückt. Hier findet man auch noch jene Kompaktheit des städtischen Gewebes, das eine Vorbedingung für die Eigenschaft der „Urbanität“ darstellt.

 

Um darzustellen, wie unterschiedlich die Quantität des Fortbewegungs-Bedürfnisses, aufgrund des „Siedlungs-Beziehungsmusters“ sein kann, möchte ich hier persönliche Erfahrungen wiedergeben:

 

Ich verbrachte die ersten 35 Jahre meines Lebens in meinem Elternhaus, in einer organisch gewachsenen Stadt, nämlich Wien. Während der restlichen 35 Jahre war ich in den Vereinigten Staaten, großteils in Los Angeles, sesshaft.

In Wien wohnte ich im Herzen der Innenstadt, zu einer Zeit, zu der es Massenverkehr und daher auch Verkehrsstörungen nicht gab. Die Qualität meiner „Bleibe“ war gut; es gab weder Lärm noch übermäßig viel Schmutz und keinerlei giftige Abgase. Die Fortbewegungsbedürfnisse meines Vaters, der von Beruf Rechtsanwalt wart, reichten über so kurze Distanzen, daß er während seiner normalen Tätigkeiten, sich niemals eines Verkehrsmittels bedienen mußte. Einem „altmodischen“, aber praktischen Gebrauch folgend, waren Büro und Wohnung auf derselben Etage nebeneinander angeordnet.

Die Routinefortbewegungs-Bedürfnisse meines Vaters waren folgende: Aus dem Schlafzimmer ins Badezimmer, von Badezimmer ins Frühstückszimmer, von dort in sein Büro, das gleichzeitig, während des Abends, auch als sogenanntes Herrenzimmer diente, vom Büro zum Familienmittagsmahl ins Speisezimmer. Nach der Mahlzeit ein 10-Minuten-Spaziergang ins Kaffeehaus am Stephansplatz, ein weiterer Spaziergang zurück, Verhandlungen im Bezirksgericht, das vis-a-vis der Wohnung gelegen war und am Abend ein längerer Spaziergang mit meiner Mutter, um Theater, Weinstuben, Restaurants und Kaffeehäuser, im Verlauf eines Bummels durch die Stadt, zu besuchen.

Auch für mich war die Benützung von mechanischen Fortbewegungsmitteln unnötig. Ich ging zu Fuß 8 Minuten zur Schule, ebenfalls zu Fuß 10 Minuten in den Stadtpark, wo ich meine Spielkameraden traf. Für meine Mutter war die Situation ähnlich. Ihre Einkäufe besorgte sie „um die Ecke“ in verschiedenen Geschäften. Eine Ausnahme bildeten natürlich Ferienreisen. In diesen Fällen bestellte mein Vater einen Einspänner, der uns zur Bahn brachte. Nach zwei Stunden aufregender Fahrt wurden wir wieder von einem Einspänner abgeholt, der uns zu einem ruhigen Gasthof auf dem Lande brachte. Trotzdem mein Vater gut verdiente, wäre ihm die Idee, sich ein eigenes Fahrzeug zu kaufen, nicht gekommen.

Und nun zu meinem Leben in Los Angeles: Hier bewohnen wir ein großes Haus mit schönem Garten und Schwimmbecken. Das Haus liegt in einem Vorort, ungefähr 25 km vom Stadtzentrum entfernt. Diese Entfernung ist aber keineswegs störend, da ich nur äußerst selten im Stadtzentrum zu tun habe. Solange meine Kinder bei mir wohnten, verfügten wir über 4 Autos, eines für mich, eines für meine Frau und je eines für Sohn und Tochter.

Ich brauchte den Wagen, um ins Büro, zu Klienten, zum Mittagessen und wieder nach Hause zu fahren. Meine Frau kann ohne Wagen nicht auskommen, weil jeder Einkauf eine längere Fahrt zu einem Einkaufszentrum bedingt. Meine Kinder konnten ohne Wagen weder Schulen noch Freunde erreichen. Da alle Wege zu den „Pflicht- oder Wahlorten“ ein hohes Ausmaß an Zeit und nervöser Energie benötigen, und außerdem mit Gefahren verbunden sind, versuchen wir, sie auf das essentielle Minimum zu beschränken. Im Gegensatz zum Haushalt meiner Eltern in Wien, gehen wir am Abend nicht aus, da der Besuch von Theatern, Konzerten oder Freunden unannehmbare Opfer erfordert. In unserer Freizeit sind wir also Gefangene in unseren vier Wänden und in unserem Garten.

Der Aufenthalt im Garten ist uns in den letzten Jahren dadurch verleidet worden, dass zunehmende Luftverpestung und Lärmentwicklung auch unseren Vorort erfaßte. Ein Garten, in welchem man statt Luft nur Smog, der einem die Tränen in die Augen treibt, einatmen kann und der erfüllt ist vom Motorenlärm des ständig vorbeiströmenden Autoverkehrs und des fast ununterbrochenen darüberströmenden Flugzeugverkehrs, ist unerfreulich. Wenn wir uns erholen wollen, besteigen wir ein Düsenflugzeug und fliegen nach Europa.

Die Fortbewegungsbedürfnisse unseres Haushalts in Los Angeles sind also ein Vielfaches dessen jenes meiner Eltern in Wien. Da außer mir noch etwa sieben Millionen andere Leute in Los Angeles wohnen und da es öffentliche Verkehrsmittel praktisch nicht gilbt, zeugt die Summe dieser Fortbewegungsbedürfnisse einen Verkehr, der auch durch das größte städtische Autobahnnetz der Welt nicht bewältigt werden kann.

Würde ich mir die Frage vorlegen, ob die Qualität des Lebens, wie sie für mich bis 1938 in einer verhältnismäßig bescheidenen Mietwohnung bestand, geringer war, als jene, die ich in einem luxuriösem Haus in einer der vornehmsten Vorortegegenden von Los Angeles genieße, dann müßte ich die Frage negativ beantworten.

Da aber „Qualität des Lebens“ als Maßstab für Stadtentwicklung dienen sollte und ich annehme, dass meine persönliche Erfahrung typisch für die anderer ist, ergibt sich die Folgerung, daß wir in der Entwicklung unserer Städte in den letzten 50 Jahren ernste Fehlleistungen begangen haben. Es scheint fast so, als wenn man es sich weltweit in den Kopf gesetzt hätte, die Städte planmäßig (oder planlos) zu zerstören.

Zu diesem Zweck wird ein einfaches Kochrezept verwendet, das auf die Frage ausgerichtet ist: „Wie macht man eine Stadt kaputt?“ Dieses Rezept lautet ungefähr wie folgt:

1.) Man nehme eine Stadt beliebiger Größe, in beliebiger Lage.

2.) Man walke den bestehenden städtischen Teigballen nach allen Richtungen energisch aus, bis er den Charakter eines dünnen Strudelteiges mit möglichst vielen Löchern annimmt.

3.) Man zerreiße den ausgezogenen Strudelteig, so dass sich Fetzen verschiedener Größe bilden. Diese bereite man dann für verschiedene Zwecke und verschiedene Einkommensgruppen zu. Auf diese Weise kann man große Teigfetzen als reine Wohngebiete, für kleinere, mittlere oder große Einkommen, andere als reine Arbeitsgebiete, Verwaltungsgebiete usw. zurichten. Man kann auch Teigfetzen für verschiedene Altersgruppen z. B. für Junge, Erwachsene und Alte speziell zubereiten.

4.) Da es für jeden Bürger, durch die Zerfetzung der Stadt, notwendig wird, täglich große Distanzen zurückzulegen, serviere man als Beilage Verkehrssalate, die man mit Rampen, Kleeblättern und Unterführungen geschmackvoll garniert.

5.) Der Koch, der dieses Rezept getreulich anwendet, wird mit Genugtuung feststellen, dass die zubereitete Speise die gestellte Aufgabe „der Kaputtmachung der Stadt“ erfüllt. Als Nebenwirkungen ergeben sich

a) das Dahinsiechen oder der Tod jedes öffentlichen Verkehrssystems,

b) die Zerstörung jeglicher Natur- und Landschaftsgebiete, die sonst möglicherweise zur Erholung der Städter beitragen könnten,

c) die finanzielle Bankrottierung der Städte.

Ich war in der Lage, die Anwendung dieses Kochrezeptes in den Vereinigten Staaten, in den Jahren 1940 bis 1960 zu beobachten und mich persönlich von der Ungenießbarkeit der zubereiteten Speise zu überzeugen.

 


 

Sind die Kentauren wirklich ausgestorben?

(Artikel von Victor Gruen, erschienen am 3. 11. 1974 im Schweizerischen Kaufmännischen Zentralblatt)

Die Griechen der Antike hatten schon Hunderte von Jahren vor Christi eine Kultur gestaltet, die unser Leben noch heute beeinflußt. Aber auch die alten Griechen hatten schon ihre Probleme. Wie wir aus der Mythologie erfahren, wurden ihre kulturellen Bestrebungen durch einen wilden Volksstamm, die „Kentauren“, die halb Mensch, halb Tier waren, empfindlich gestört. Nach langen Kämpfen, so wird berichtet, gelang es den Griechen, diese Kentauren einige hundert Jahre vor Christi Geburt vernichtend zu schlagen. Der Kentaur gehörte einer mythologischen Rasse an, die in den Bergen Thessaliens beheimatet war. Sie waren Nachkommen eines Herrn Kentauros, der ein Sohn des Ixion war. Die meisten von ihnen waren halb Pferd, halb Mensch und waren deshalb als Hippokentauren (hippo, griechisch = Pferd) bezeichnet.

Erscheinungen, die wir heute beobachten, lassen den Verdacht aufkommen, daß die Nachricht von der vollkommenen Vernichtung der Hippokentauren eine griechische Zeitungsente war. Denn die Kentauren existieren scheinbar auch heute noch: In unserer Ära, in der das Pferd völlig vom Automobil verdrängt wurde, erscheinen sie aber in neuer Gestalt als eine Mischung von Mensch und Auto. Man müßte sie also als „Autokentauren“ bezeichnen.

Ihrem Wesen nach sind die „Autokentauren“ mit den altgriechischen Hippokentauren eng verwandt. Über die letzteren berichtet die Encyclopaedia Brittanica: „Ihr Charakter ist der von wilden, gesetzesmißachtenden und ungeselligen Geschöpfen, die Sklaven ihrer animalischen Passion sind.“

Die „Autokentauren“ sind mit dem Kraftwagen mit Leib und Seele innig verwachsen, ihr Denken ist so wie das ihrer Vorahnen auf Pferdestärken ausgerichtet. Auch die Merkmale „wild, gesetzesmißachtend, ungesellig“ haben sie von ihrer griechischen Vorfahren übernommen.

Ihre animalische Passion macht sie zu leidenschaftlichen Kämpfern gegen alles, was da sonst noch keucht und fleucht, wie zum Beispiel Fußgänger, Radfahrer, straßenkreuzende Tiere, Straßenbahnen, Autobusse, Eisenbahnen. Ihr Haß konzentriert sich aber besonders auf Menschen, die das Automobil lediglich als ein Fortbewegungsmittel, als eines der vielen Produkte der modernen Technologie, als eine Art Werkzeug betrachten, und die sich mit dem Kraftwagen nicht physisch und seelisch verwachsen fühlen.

Obwohl die „Autokentauren“ zahlenmäßig eine unbedeutende Rolle spielen, ist ihr Kampf gegen ihre Feinde außerordentlich wirksam, weil sie sich in strategischen Positionen eingenistet haben. So findet man „Autokentauren“ in den Motorredaktionen von Tages- und Wochenzeitschriften, in den Amtsräumen von Automobilklubs und von Verkehrsplanungsbehörden. Von diesen Positionen aus führen sie unter Einsatz von Tausenden von Pferdestärken einen wirksamen Kampf gegen alle „Autoungläubigen“ mit dem Ziel, diese erbarmungslos auszumerzen.

Verhaltensforscher haben versucht, der Lebensweise der „Autokentauren“ auf die Spur zu kommen, was angesichts deren inneren Zwiespältigkeit nicht einfach ist. Die folgenden zwei Forschungsergebnisse stammen aus Meinungsumfragen bei einer repräsentativen Gruppe von “Autokentauren“:

1. „Wie ist Ihr Verhalten gegenüber der Erdölkrise?“

„Unsere Kentaurenbibel besagt, daß es einen Mangel an Erdöl nicht geben darf und deshalb nicht geben kann. Die Erdölkrise ist eine freie Erfindung der Autoverteufler (weiche von mir, Satans!), weiters der Araber, der Israelis und aller Regierungen. Auch einige verblendete Wissenschaftler, die von den Grenzen des Wachstums reden, statt sich ein bißchen mehr anzustrengen, um ein Übermaß von Öl schleunigst herbeizuschaffen, sind schuldig. Unsere Lebensanschauung drückt sich am besten in einem Kampflied aus, das einem Wiener Heurigenlied nachempfunden ist: „ ... es wird ein Öl sein, und wir werd´n nimmer sein ... . Sollte sich aber durch die Anstrengungen der Automobilverteufler ein temporärer Ölmangel einstellen, dann ist ein echter „Kentaur“, der mit Benzin statt mit Muttermilch aufgezogen wurde, auch bereit, Opfer zu bringen und von anderen bringen zu lassen. Wir verzichten gerne auf vieles, wenn wir nur genug Benzin für unseren Durst erhalten: auf Familie, Wohnungen, und auf allen jenen Unsinn, der unter dem Begriff ´Kultur´ zusammengefaßt wird. Von Außenstehenden, ´Ungläubigen´, erwarten wir natürlich auch kleine Opfer. Jene, die so dumm waren, sich Ölheizungen anzuschaffen, sollen eben ein bißchen frieren. Wenn sich Kraftwerke und Industrien auf den Gebrauch von Öl kaprizieren, dann sollen sie zusperren! Menschen, die sich darauf versteifen, Heilmittel, die aus Öl gewonnen werden, zu verwenden, müssen eben krank bleiben! Leute, die so zimperlich sind, daß sie sich von unseren Abgasen gestört fühlen, sollen auswandern, womöglich auf einen anderen Planeten! Hände weg von unseren heiligsten Gütern, vor allem von dem Göttergetränk Benzin, nach dem es uns ewig dürstet, denn unser Durst ist wichtiger als alle anderen Dürste!“

2. „Wie stehen Sie zu den Geschwindigkeitsbegrenzungen?“

„Wir Kentauren lieben unsere Freiheit und sind bereit, für sie zu kämpfen bis zum Tod. So wie unsere Ahnen – die eine Roßnatur hatten – lassen wir uns nicht an die Kandare nehmen. Wer versucht, uns zu zügeln, muß riskieren, daß wir durchgehen und den ganzen Karren umschmeißen! Was zählen schon ein paar tausend Opfer an Gefallenen und Verletzten, die angeblich (auf Grund erschwindelter Statistiken) gespart werden könnten, verglichen mit der hehren Freiheit des ´Rasens´, mit der unsere Schöpfer uns ausgestattet haben! Wenn wir uns nicht mit unserer gottgegebenen Höchstgeschwindigkeit bewegen können, ist uns fad, und wir schlafen ein. Und wenn das passiert, sind die Folgen unabsehbar! Jede ´Bewegung´ erfordert selbstverständlich Opfer. Auch Menschen, die Pferdewagen, Schiffe, Eisenbahnen, Straßenbahnen benutzen, sind schon verunglückt. Warum also die einseitige Einstellung gegen uns „Autokentauren“, besonders in einer Welt, die durch Überbevölkerung mit Menschen ohnehin leidet?“

 
„Autokentauren“ sind auch fleißige Schreiber von Lesebriefen. Ich zitiere aus einem mit der Überschrift „Autofahrer im Käfig“: „Der Autofahrer, der in einem Auto eine, wenn auch schon sehr eingeengte Oase der Freiheit gesehen hat“, ist durch Vorschläge, wie z. B. den Sicherheitsgurt einzuführen, im Genuß dieser Freiheit ernstlich bedroht. „Der Autofahrer kommt sich heute beinah schon wie ein Häftling zwischen engen Mauern und Gittern vor, dessen einzige Straftat es war, im Besitz eines Autos zu sein.“ „Man verleidet ihm sein Leben durch Methoden, die bisher mit Erfolg angewendet wurden, wie steigende Versicherungsprämien, negative Beeinflussung des ´jugendlichen Nachwuchses´ als Folge einer verfehlten Schul- und Sozialpolitik, die 130-km-Geschwindigkeitsbegrenzung, Radarkontrollen und Zivilstreifen.“

Die Tatsache, daß man die Freiheit des Autobesitzers schon seit langem durch „sinnwidrige“ Maßnahmen wie Rechtsfahren, Verkehrsampeln und Dutzende andere „Schikanen“ beträchtlich eingeengt hat, schmerzt alle „Autokentauren“ zwar, aber sie werden großzügigerweise nicht erwähnt. Der Leserbrief schließt mit der Feststellung: “Nur den Autofahrer selbst geht sein Leben und seine Gesundheit etwas an.“

Mit diesem Satz drückt sich die typische Einstellung der „Autokentauren“ aus: Was schert sie Weib, was schert sie Kind, was kümmern sie alle anderen, die den natürlichen Rohstoff Öl gebrauchen! Was kümmert es sie, wenn die Menschheit zugrunde geht, solange sie frei und ungehemmt rasen können! Denn ihr Schlachtruf ist: „Heute gehören uns die Fahrbahnen in Stadt und Land, morgen gehören uns die Gehsteige, und übermorgen gehört uns die Welt!“