Die lebenswerte Stadt

Quelle: Victor Gruen: Ein realistischer Träumer - Rückblicke, Einblicke, Ausblicke.

Victor Gruen war die Gestaltung von Städten und Stadteilen, in denen sich Menschen wohl fühlen, ein besonderes Anliegen. Seine vielen Artikel, Reden und ein Buch mit dem Thema „Die lebenswerte Stadt“ bezeugen dies.

In einem Artikel von Gruen für die Zeitschrift Natur- und Umweltschutz (erschienen im November 1973) ist zu lesen: „Die Gestaltung der lebenswerten Stadt ist einer der wichtigsten Aspekte der gesamten Umweltplanung, weil ein steigender Anteil der explodierenden Weltbevölkerung in städtischen Gebieten siedelt (in Industrieländern zwischen 70 und 80%) und die Stadt somit zur „Umwelt“ der Mehrheit der Menschen wird.“

 

In seiner Autobiographie, die leider nie veröffentlicht wurde, schreibt V. Gruen:

 

Für die lebenswerte und liebenswerte Stadt galten für mich folgende Leitlinien:

a) Auch die große Stadt darf nicht ein aufgeblasenes Zerrbild einer maßgerechten urbanen Einheit sein, sondern gegliederte Föderation von selbständigen maßgerechten Stadteinheiten, von denen jede eine Bevölkerung von zwischen vierzigtausend und achtzigtausend umfassen könnte.

b) Jede der Stadteinheiten ist untergliedert, um die Identifikation mit maßgerechten Teil-Einheiten zu erlauben und um „Sterilität“ zu vermeiden. Solche Untergliederungen könnten sein: Bezirke, Stadtviertel, Nachbarschaften, Gemeinschaften, Familien-verbände.

c) In jedem Element der Gliederung und Untergliederung findet eine kleinkörnige Verflechtung sowohl aller soziologischen Gruppierungen als auch aller städtischen Einrichtungen (Wohnstätten, Arbeitsstätten, Kulturstätten, Lehrstätten, Vergnügungs-stätten, Gesundheitsstätten usw.) statt. Eine kleinkörnige Verflechtung ist nur dann erreichbar, wenn jede einzelne Funktion und die Gebäude und Anlagen, die sie beherbergen, von maßgerechter Größe sind und wenn jeder „Gigantismus“ ver-mieden wird.

d) Die lebenswerte Stadt ist eine räumliche Stadt, das heißt sie ist unter Nutzung der drei Dimensionen Länge, Breite und Höhe geplant. Die kleinkörnige Verflechtung wird also nicht nur durch Verflechtung im horizontalen, sondern auch durch eine im vertikalen Sinn erreicht.

e) Während auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen engste Integration ange-strebt wird, so ist im Hinblick auf das Verhältnis zwischen vorwiegend technischen und vorwiegend menschlichen Funktionen die höchstmögliche Separation anzustreben. Aufgrund des multidimensionalen Planungsprinzips ist es möglich, technische Gemeinschaftsanlagen (Kanal, Verteilerstationen, Gashauptleitungen), inklusive aller Verkehrsflächen, die der mechanischen Fortbewegung dienen, auf jenen Ebenen unterzubringen, die für menschliche Bleibeorte und Betätigungen wenig wünschenswert erscheinen. Eine solche Unterbringung kann unterirdisch oder unter künstlichen Plattformen erfolgen, wobei als Grundsatz zu beachten ist, dass technische Hilfseinrichtungen so wenig wie möglich gesehen, gehört oder gerochen werden sollen.

f) Als äußere Form der Stadteinheiten und Untergliederungen wird sich, um gleiche Entfernungen herzustellen, jene als günstigste anbieten, die dem Kreis nahekommt. Dieser besitzt ja in Relation zu seinem Umfang die größte Fläche, in ihm sind alle Entfernungen zum Mittelpunkt gleich lang. Dies soll keinesfalls bedeuten, dass eine mechanische Verwendung des Kreises empfohlen wird, sondern nur, dass unter Berücksichtigung der Topographie, der Geographie, der klimatischen Verhältnisse und der Tradition unregelmäßige Formen entstehen sollen, die sich aber eher der Ballen- als der Bandform nähern.

g) Die Besiedlungsdichte einer Stadt (Einwohnerzahl per Maßeinheit) ist eine Frage, die die Gemüter erhitzt. Hier gibt es eine Bandbreite, die von Schwellenwerten begrenzt wird. Eine zu geringe Dichte in der Art der „Verhüttelung“ à la Los Angeles macht „Urbanität“ unmöglich und vergeudet natürliche Güter wie Land, Wasser, Luft, Fauna, Flora und Rohstoffe unnötigerweise. Eine zu große Dichte führt zu Übersättigung und zum Ersticken der Urbanität. Als maßgerechte Dichte, die weder zu einem Gedränge von Menschen (zu große Dichte) noch zu einem Gedränge von Verkehrsmaschinen (zu kleine Dichte) führt, können 150 – 400 Personen per Hektar angenommen werden.

h) Freiheit des individuellen Ausdrucks kann in der gegliederten Stadt, die sich aus kleinen und kleinsten Einheiten zusammensetzt, erreicht werden, weil die einzelnen Bauwerke und Anlagen von Zehntausenden kreativen Kräften im Zusammenwirken mit den Benützern gestaltet werden können. Superprojekte, die a priori unter „Sterilität“ leiden, soll es in der „lebenswerten Stadt“ nicht geben.

i) Aufgrund ihres strukturellen Aufbaues, der aus autarken und semiautarken Gliederungen und Untergliederungen besteht und aufgrund des Prinzips der kleinkörnigen Verflechtung wächst die Möglichkeit, die direkte menschliche Kommunikation stärker zu nützen. Gleichzeitig schrumpft der Bedarf an Verkehrseinrichtungen. Der verringerte Bedarf an „Zwangsmobilität“ kann problemlos durch „Gemeinschaftsfahrzeuge“ (z. B. Taxis) und „kollektive Fahrzeuge“ (Autobusse, U-Bahnen, Straßenbahnen) gemeistert werden.

j) Die „lebenswerte Stadt“ ist nicht nur in besonderen Ausnahmefällen möglich, wie etwa bei der Planung und Anlage neuer Städte. Jeder unserer bestehenden Städte kann schrittweise der Visionen der „lebenswerten Stadt“ nähergebracht werden. Da die Eigenschaft des „Lebenswerten“ auch durch eine Verflechtung von Altem und Neuem, ohne zu tiefe Eingriffe in das Gewohnte, angestrebt wird, scheinen sich der schrittweisen Umgestaltung bestehender Städte aussichtsreiche Chancen zu eröffnen.

Dem allgemeinen verbreiteten Glaubensbekenntnis der von Le Corbusier erarbeiteten „Charta von Athen“ setze ich die Prinzipien der von mir 1973 veröffentlichten „Charta von Wien“ entgegen:

Im wesentlichen setze ich den Begriffen in der „Charta von Athen“, wie „Entlastung“, „Entflechtung“ und „verkehrsgerechte Gestaltung der Stadt“, die der „Förderung höchster Kompaktheit“, „größtmöglicher Verflechtung“ und der „nicht autogerechten sondern menschengerechten Stadt“ entgegen.

In diesem Sinne erkläre ich, dass ich die mit höchster Priorität behandelte Verkehrs-planung im Prinzip für irrig halte. Ich empfahl nicht für den Verkehr, sondern gegen den Verkehr zu planen, um in der Anlage von städtischen Einheiten und Untereinheiten ein Höchstmaß an Kommunikation zu Fuß und ein Mindestmaß an mechanisiertem Verkehr zu erreichen.

 


 

Zum Begriff der Urbanität:

(aus dem Artikel von Gruen „Doch die Verhältnisse, die sind nicht so! (Bert Brecht)“

Jene Leute, die in einer Stadt wohnen, wollen auch der Vorteile der Urbanität teilhaftig werden, die meiner Ansicht nach 3 Grundbedingungen erfüllen müssen:

  • das größte Ausmaß von Gelegenheiten für direkte menschliche Kontakte,
  • das größte Ausmaß von Gelegenheiten für den Austausch von Ideen und Gütern,
  • das größtmögliche Ausmaß von Freiheit, geschaffen durch die Bereitstellung einer breiten Palette vielfältiger Wahlmöglichkeiten auf vielen menschlichen Erlebnis-gebieten.

Wir erwarten von Urbanität die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes, der Bildungs-möglichkeiten, künstlerischer und kultureller Betätigung, aber auch volle Freiheit in der Wahl von Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen und geliebten Personen.

Wir verlangen von ihr die Freiheit, je nach Temperament und Laune wählen zu können zwischen Einsamkeit, Zweisamkeit und Vielsamkeit, zwischen privater Ruhe, Geselligkeit mit einigen, oder gelegentlichen erregenden Erlebnissen zusammen mit vielen.

Wir erwarten eine reiche Auswahl an Alternativen für geistige und körperliche Selbst-entfaltung und eine maßgerechte Möglichkeit zur Ausübung individueller Lebensart ohne Einmischung von anderen.

Wenn ich auch gerne eingestehen will, dass Urbanität mit all den Anforderungen, die ich ideell an sie stelle, noch nicht existiert, sondern nur in Annäherungen vorhanden ist, so ist auch dies darauf zurückzuführen, dass nichts im menschlichen Streben und Leben perfekt ist, denn: „Die Verhältnisse, die sind nicht so“.